Am Potsdamer Platz und anderswo sieht man die langen Schlangen, die roten Taschen, die konzentrierten Blicke in das Programmheft. Ich war faul und hatte keine Lust, mich anzustellen, und habe mir deswegen online ein paar Karten gekauft. Die kann man an einem extra Schalter abholen, keiner muss warten, was macht es da schon, dass ich nicht alle Filme sehen kann, die ich gern sehen würde. Bisher hat mich das Fieber auch noch nicht erwischt, ich bin spät dran.

Zum Einstieg sehe ich einen koreanischen Film aus dem Forum-Programm. Viel weiß ich nicht über Korea. Im Norden die Volksrepublik, im Süden die demokratische Öffnung. Ein geteiltes Land, das einige Parallelen zu der Teilung Deutschlands aufweist. „The Day After“. Regie Lee Suk-Gyung, die nicht nur eigenes Erleben filmisch verarbeitet, sondern die auch die eigene Familie als Laiendarsteller eingesetzt hat. Ein Film, der ohne Musik auskommt, gerade mal am Schluss gibt es ein paar Takte, ohne schnelle Schnitte, man sieht nichts von dem, was man sonst im Kino gewohnt sind.

Die Hälfte dieses Films besteht aus dem Dialog zweier Frauen, die zufällig ein Hotelzimmer teilen und bei Bier und Zigaretten über ihre Probleme reden. Davon hat die Protagonistin Bo-Young, Schriftstellerin und Mutter, eine Menge. Sie ist Ende Dreißig, geschieden, was in Korea offensichtlich als Makel gilt, der Ex-Mann will sich neu verheiraten, das neue Buch will sich nicht so einfach fertig schreiben, für ihre Tochter hat sie zu wenig Zeit. Nach dieser Nacht ist sie nicht mehr dieselbe. Die andere Frau zwingt sie zum Nachdenken, auch dazu, sich ihren Schmerzen zu stellen und sich nicht länger etwas vorzumachen.

Und ich hatte plötzlich meinen Kick. Mein Adrenalin. Es hat mich daran erinnert, warum es sich lohnt, zur Berlinale zu gehen, dafür vielleicht sogar eine Stunde in einer Schlange zu stehen. Es sind diese Einblicke in fremde Leben, in eine fremde Kultur, diese Kombination von ungewohnten Bildern und Tönen, die manchmal radikal den Blickwinkel ändern und den Menschen in eine andere Ebene katapultieren. Wenn man auf nichts zurück greifen kann, das einem vertraut ist, kann es passieren. Vielleicht werde ich doch noch einmal zum Potsdamer Platz fahren.

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