Ich hatte vergessen, dass der Bus in der Ferienzeit nur alle fünfzehn Minuten fährt. An der Haltestelle sitzen bereits zwei junge Männer. Türken. Oder Araber. Albaner. Serben. Montenegriner. Ich beachte sie nicht weiter. Sie sehen mir hinterher, als ich an ihnen vorbei gehe. “Schöne Beine“. Ich fühle mich geschmeichelt und setze mich auf die Steinbrüstung vor den Zaun, der das Gebäude der Post von der Straße trennt. Dannn hole ich mein Buch heraus. 

„Schöne Beine.“ Sagt der junge Mann noch einmal, diesmal mit erhobener Stimme. Es kommt also noch etwas. „Alte Frau.“ Meine Reaktion ist spontan und wir mir schon Sekunden später klar wird, völlig fehl am Platze. Ich zeige ihm den Mittelfinger. Das findet er lustig. Er tuschelt mit seinem Freund. „Aber es stimmt doch. Du hast schöne Beine. Und alt bist du auch.“ Jetzt steht er auf und schlendert auf mich zu. Er kann nicht älter als achtzehn sein.

In gebührendem Abstand zu mir setzt er sich auf die Steinbrüstung. Das hat mir gerade noch gefehlt. Er will sich mit mir unterhalten. Über meine Beine wahrscheinlich. Ich überlege, wie ich mich verhalten soll. Ihn ignorieren? Mein Buch weiter lesen? Mich mit ihm auf ein Gespräch einlassen?

Anstatt den Mund zu halten, schließe ich mein Buch, fixiere seine Augen und frage ihn, wie er es finden würde, wenn man auf diese Art und Weise seine Mutter ansprechen würde. Er versteht mich nicht. Offensichtlich gelingt es ihm nicht, Parallelen zwischen seiner Mutter und mir herzustellen. Einen kurzen Augenblick lang habe ich die Vision einer alten Frau in einem langen bunten Rock, mit einem Kopftuch um das faltige Gesicht und Zahnlücken. Also gut, ich versuche es noch einmal.

Ich erkläre ihm, dass er sehr wohl mein Sohn sein könnte. Woraus sich vielleicht ein gewisser Respekt ableiten ließe. Er schüttelt den Kopf. „Wie alt bist du denn? Dreißig? Dann kannst du nicht meine Mutter sein.“ Ich fühle mich schon wieder geschmeichelt, möchte aber auch nicht lügen. Also gestehe ich mein wahres Alter. „Na siehst du, meine Mutter ist viel älter als du“ Er lacht. Ich gebe es auf. Oder fast. Vorher erkläre ich ihm noch, dass ich rein biologisch seine Mutter sein könnte. Und es aus diesem Grunde unpassend finde, von ihm auf meine Beine angesprochen zu werden.

Er denkt einen Augenblick nach. Vielleicht kann er meine Gedankengänge nachvollziehen, vielleicht auch nicht. Zumindest siezt er mich ab sofort. „Wissen sie, mir ist langweilig.“ Ehrlich ist er auf alle Fälle. „Mein Kumpel sitzt die ganze Zeit da und redet nicht. Ist es da nicht viel besser, sich mit einer Frau zu unterhalten? Mit ihnen?“ Eigentlich pflichte ich ihm bei, aber das muss ich ihm ja nicht auf die Nase binden. „Trotzdem.“ versuche ich einzuwenden. „Na ja, mit einer jüngeren Frau wäre es interessanter, aber mit ihnen ist es auch ganz nett.“

Ach verdammt, soll er sich doch seine Ehrlichkeit sonst wohin stecken. Ich ärgere mich über mich selbst. Darüber, dass ich mich von den schönen Beinen habe beeindrucken lassen. Dass ich mich zu dem mittleren Finger habe hinreißen lassen. Dass mir jetzt nichts pädagogisches einfällt, ärgert mich am meisten. Ich schlage mein Buch wieder auf. C. Palmen „Die Gesetze“. Ein gutes Buch. Auch der junge Mann ist sehr interessiert. Er rückt etwas näher. „Sind sie Polizistin? Mich interessieren die Gesetze in Deutschland auch.“ Lieber Gott! Warum kommt dieser verdammte Bus nicht. Ich sage ihm, dass ich in einem Roman lese und keine Polizistin bin. Womit er natürlich nicht zufrieden ist. „Was sind sie denn?“ „Ich kaufe Papier ein.“ Das ist eine Antwort, die auch andere Menschen erst einmal verdauen müssen. Voller Freude sehe ich, dass endlich der Bus kommt. Auf Nimmerwiedersehen!

Hatte ich wirklich geglaubt, ich würde so leicht davon kommen? Die zwei jungen Männer steigen ebenfalls in den Bus. Ich setze mich auf einen freien Platz neben einen älteren Herrn. Die beiden jungen Männer sitzen etliche Bankreihen vor mir. Mein neuer Freund hat die Situation sofort wieder im Griff. „Sie glauben wohl, dass ich jetzt nicht weiter mit ihnen rede, nur weil sie sich so weit weg gesetzt haben.“ In der Tat, das hatte ich gehofft. Schnell wird mir klar, dass ich diese Hoffnung aufgeben kann. Direkt in der Reihe vor mir ist ein Platz frei geworden. Dorthin setzt er sich als nächstes. „Haben sie eine Tochter?“ Meine Mitreisenden blicken ebenfalls interessiert. Resigniert zucke ich mit den Schultern. „Nein, ich habe einen Sohn.“ Das findet der junge Mann schade. Er hat noch keine Freundin. Dafür hat er eine andere blendende Idee. „Sind sie verheiratet?“ Wieso kann ich auf so eine banale Frage nicht mit einer kleinen Lüge antworten? Es gibt bestimmt auch so etwas wie zwanghafte Ehrlichkeit. Darüber sollte ich mir bei Gelegenheit Gedanken machen. „Nein, ich bin nicht verheiratet.“ Das begeistert den jungen Mann nun wieder. Aber erst, nachdem er seinem Unverständnis darüber Ausdruck verliehen hat, dass eine Frau in meinem Alter ohne Mann leben kann.

Dann kehrt er zurück zu seiner blendenden Idee. Er hat einen Onkel in der Schweiz. Der ist vierundfünfzig. Grauhaarig ist er auch. So wie ich. Und verheiratet ist er auch nicht. Wenn er den anruft und ihm sagt, dass er eine Frau für ihn gefunden hat.. .„Kann ich ihre Telefonnummer haben?“ Ich schüttle den Kopf. Ich will aus diesem Bus. Sofort. Weder möchte ich ihm meine Tochter vorstellen, noch meine Mutter, und seinen Schweizer Onkel möchte ich auch nicht kennen lernen. Weil ich mich so beeile, aus dem Bus herauszukommen, wäre ich dem jungen Mann zum Schluss fast in die Arme gefallen. Im Eiltempo strebe ich dem Eingang zur S-Bahn zu. Mein junger Bekannter wird an der Bushaltestelle von anderen jungen Männern aufgehalten. Ich kann gerade noch verstehen, wie er mir „Schöne Beine“ hinterher ruft.

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