Das Arbeitspensum ist nicht zu schaffen. Ich sitze von 8 bis 18 Uhr im Büro, und ich sitze dort nicht nur, ich arbeite zügig, und komme trotzdem nicht hinterher. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Aufträge, ich kann nur das aller notwendigste erledigen. An mangelndem Organisationstalent liegt es nicht. Den meisten Kollegen geht es ähnlich. Zwei Drittel der ehemaligen Belegschaft muss ein größeres Pensum als früher bewältigen. Und darüber sollen wir froh sein, denn immerhin gehören wir nicht zu denen, die man vorletztes Jahr entlassen hat. Sogar in diesem Jahr sind unsere Arbeitsplätze gesichert.

Damit das so bleibt, wird es im Sommer keinen Betriebsurlaub geben, wir werden einfach durchmachen. Irgend jemand aus unserer kleinen Gruppe wird halt immer nicht da sein. Urlaube, Krankheiten, unvorhergesehene Todesfälle, wir sind schon jetzt ein reduziertes Team, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Aber das interessiert keinen, wichtig sind die Zahlen. Die Fakten. Haben wir den Output geschafft? Das Lager nicht weiter aufgebaut? Umsatz gemacht? All das Geld, das die neuen Eigentümer in unsere Firma gesteckt haben, das muss sich schließlich rentieren. Gewinne müssen her. Und das hurtig. Viel zu tun? Mein Gott, das haben wir doch alle. Schaffen sie das etwa nicht? Fühlen sie sich von ihren Aufgaben überfordert?

Die freien Tage reichen nicht zum Regenerieren. Selbst wenn ich wie am letzten Wochenende jeden Tag dreieinhalb Stunden im Zug säße und mit nur leicht geöffneten Augen absichtslos aus dem Fenster sähe, würde ich das nicht hin bekommen. Aber ich will nicht meckern. Der Ausflug nach Wuppertal hat sich auf alle Fälle gelohnt. Auch wenn ich mich Sonnabend früh noch gefragt habe, wer eigentlich auf die dumme Idee gekommen ist, der Nürnberger Freundin zu ihrem 60sten eine Karte für Pina Bausch zu schenken. Aber so etwas überlege ich immer, wenn ich um fünf Uhr in der Früh aufstehen soll.

Ich hatte einen Fensterplatz und ein paar Ideen, wie ich die Stunden im Zug gestalten könnte. Das Buch von Herrn Rühmkopf blieb zu, geschrieben habe ich gerade mal eine halbe Seite, und schlafen konnte ich nicht, weil ich mich zu diesem Zweck in der Waagerechten befinden muss. Das machte aber gar nichts, die Zeit verging trotzdem wie im Fluge.

Wuppertal ist nicht schön, nicht attraktiv, interessant könnte man die Stadt vielleicht finden. Während des Zweiten Weltkrieges zu großen Teilen zerstört, kann man heute alle Bausünden der 50er und 60er Jahre bewundern. So viel Hässlichkeit muss man erst einmal aushalten. Wenn dann noch Dauerregen hinzu kommt, und ein Sturm, der einem binnen fünf Minuten den Schirm zerreißt, könnten sogar ausgeglichenere Menschen als ich schlechte Laune bekommen. Die Wuppertaler haben gute Laune. Die jungen Frauen an der Rezeption unseres Hotels kichern. Ja, ja, wir haben hier oft so ein Wetter. Im Januar sowieso. Im Von der Heydt-Museum ein enormer Andrang, alle wollen in die Renoir-Ausstellung. Na, wir auf alle Fälle nicht. Ich sowieso nicht, mit den Impressionisten bin ich bis auf weiteres fertig. Die Freundin überlegt, dass sie Sonntag Nachmittag noch einmal allein gehen könnte, wenn ich schon wieder im Zug nach Berlin sitze.

Aber zuerst stärken wir uns mit Kaffee und Kuchen. Die junge Frau im Museums-Café lacht, als mit einem lauten Knall ihr Tablett vom Tresen fällt. Alle wach? Es dauert eine Weile, bis die Dame an der Kasse verstanden hat, dass wir wirklich nicht zu Renoir wollen sondern nur in die ständige Ausstellung. Sie lacht. Ob wir das nicht bereuen werden? Man dirigiert uns an all den Menschen vorbei in die oberste Etage, wo wir die Picassos, van Goghs, Munchs ganz ohne Gefolge betrachten können. Leider ist auch niemand da, der in den Genuss unserer von großer Sachkenntnis geprägten Beobachtungen kommt. „Die Energie und Kraft springt einen ja förmlich an, findest du nicht?“ „Finde ich auch.“

Nach zwei Stunden tun uns Füße und Rücken weh, ich werde auf dem Rückweg ins Hotel trotz Schirm das zweite Mal an diesem Tag gewässert, meine Stiefel quietschen beim Gehen. Netter Ausflug. Wirklich. Während wir halb bekleidet auf dem Bett liegen und Dönekens erzählen, unsere Kommunikation ist wie immer ausgezeichnet, man sollte gar nicht glauben, dass wir uns so selten sehen, sollen Hosen, Jacken und Schuhe trocknen. Der Taxi-Fahrer, der uns später zum Schauspielhaus fährt, hat natürlich auch gute Laune. Er grinst und scherzt mit uns, obwohl wir ihn für eine Strecke gerufen haben, die man durchaus zu Fuß bewältigen kann. Ist doch klar, bei so einem Regen lässt man sich besser fahren. Macht 6,50. Viel Spaß meine Damen.

Wir sind eine Stunde zu früh, aber im Schauspielhaus ist es bereits voll. Heitere Menschen nehmen im Foyer stehend oder sitzend warme und kalte Speisen zu sich. Wir finden das etwas übertrieben, außerdem haben wir längst beschlossen, dass wir anschließend essen gehen. So haben wir uns das jedenfalls gedacht. Nach der Lektüre des Programmheftes sind wir klüger. Das Stück geht drei Stunden mit Pause. Die Schlange am Büfett ist lang, wir werden es nicht mehr schaffen, vorher etwas ordentliches zu essen. Ich habe plötzlich so einen Hunger, ich könnte ein halbes Schwein……

Die Freundin besorgt eine belegte Laugenbrezel, die wir schwesterlich teilen und bestellt in weiser Voraussicht eine Kleinigkeit für die Pause. Diesen Service gibt es in Berlin auch, allerdings habe ich noch nie Gebrauch davon gemacht. Es ist wunderbar, wenn man an einen gedeckten Tisch kommt, wenn Prosecco und Lachs-Baguettes schon auf einen warten und man sich in der knappen Zeit nicht noch irgendwo anstellen muss. Da kann man sich ganz entspannt über das Stück unterhalten. Mit vollem Mund voll des Lobes sein.

Kontakthof. Für Damen und Herren ab 65. Was für eine Idee. Bestimmt hat man Pina Bausch vorher abgeraten. Oder auch nicht. Vielleicht hat sich auch gleich jeder vorstellen können, dass es ein großer Erfolg wird, wenn man ältere Menschen auf der Bühne mit ihren Körpern Geschichten erzählen lässt. Und dabei handelt es sich nicht um ehemalige Tänzer. Da bewegen sich Laien. Menschen aus Wuppertal. Menschen wie du und ich. Wenn ich sie an der Haltestelle treffen würde, käme ich nicht auf die Idee, dass sie sich freiwillig auf eine Bühne stellen. Noch dazu ohne Angst, sich lächerlich zu machen. Sie erzählen uns Geschichten über die Liebe. Über Männer und Frauen. Über Paare. Über Menschen, die sich nach einer Partnerschaft verzehren und andere, die in Partnerschaften vor sich hin dümpeln oder sich gegenseitig verletzen. So berührend, komisch, heiter, manchmal auch tragisch, und keine Minute langweilig. Wunderbar und großartig war es. Am Schluss standen wir mit den anderen auf und klatschten uns die Hände wund. Ach, wenn das Theater in der Firma doch nur halb so unterhaltend und komisch wäre.

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