Während ich mir gestern mit verbundenen Augen die 21 Bilder der Ausstellung ertastete, die die russische Künstlerin Julia Soubottina nach dem Gedicht „Das Wiegenlied aus dem Schieftal“ geschaffen hat, muss ein ziemlich kaltblütiger Mensch aus unserem Carport (Abstell-Gerümpelplatz) das Fahrrad der Freundin aus dem Nachbardorf gestohlen haben. Kein Zaun, ein offener Durchgang nur, und am Pfosten das Plakat von der Ausstellung, auf dem stand, dass man 60 Minuten mit geschlossenen Augen, nur den Geräuschen der Natur ausgesetzt, Bilder mit den Fingern betrachtet.

Das muss jemand als Einladung verstanden haben, sich doch einmal umzusehen. Und dann stehen da zwei nicht abgeschlossene Fahrräder, ein Glückstag für den mutigen „Finder“. Dummerweise schon das zweite Rad, das sie der Freundin gestohlen haben. Sie ist zu gutgläubig. Aber gefallen hatte ihr die Performance, ihrem Mann auch. Obwohl sie froh war, dass sie die Augenbinde wieder abnehmen konnte. Wenn sie blind werden würde, käme nur Selbstmord in Frage. Sagte sie.

Das habe ich ganz anders erlebt. Mir hat es gefallen, mit verbundenen Augen, nur mit den Fingern also, über Stoff, Federn, über Steine, Muscheln und Gräser zu streichen und dazu einen Film im Kopf zu sehen. Der nichts mit der tatsächlichen Geschichte aus dem Schieftal zu tun hatte, wie sich später herausstellte. Ich „sah“ eine Meerjungfrau mit langen Haaren, auch mit langen Haaren am Körper, die von einem Fischer (Julieta?) in die Menschenwelt gelockt wurde. Aus Liebe folgte sie ihm dann. Klar. Das Paar war glücklich, bekam Kinder, aber am Ende ist die Frau mit den Töchtern zurück ins Meer gegangen.Und ich fühlte eine gewisse Aufgeregtheit in mir. Gar nicht unangenehm.

Ich habe die Dunkelheit genossen, die Geräusche, den Wind auf meiner Haut, alles eigentlich. Blindheit würde mich nicht so sehr schrecken wie Taubheit. Aber das könnte daran liegen, dass ich ja jetzt schon lange „gesehen“ habe. Hören und spüren, das ist für mich eine wunderbare Kombination.

Zum Schluss wurde man vom Kroaten an die Hand genommen, zu einem Sitzplatz geführt. Dabei flüsterte er Auszüge aus dem Gedicht, das zu lesen sich lohnt – ein längerer, sehr poetischer Text – mal auf kroatisch, auch auf deutsch, wenn ich mich recht erinnere, und das war ein bisschen magisch.

Die beiden ein Künstlerpaar, das sich gut ergänzt. Und gegenseitig fordert und fördert. So etwas habe ich mir auch immer gewünscht. Seufz. Aber ich sollte mich nicht beklagen, für eine Weile hatte ich das ja auch. Und jetzt folge ich den großen braunen Hundeaugen, die mich schon seit einer Weile zu hypnotisieren versuchen.

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