So vergehen Tage. Ich schlafe länger als sonst, brauche mehr Zeit, um wach zu werden, mehr Zeit im Bad. Sogar die Übungen dauern länger als sonst. Falls ich mir das nicht nur einbilde. Vielleicht liegt es auch an dem simplen Prozess der Entschleunigung, den man bei Rentnern beobachten kann. Die erzählen nicht selten von enormen Strapazen, die sie in der Woche auf sich nehmen mussten, weil sie dreimal beim Arzt und einmal im Supermarkt waren. Ich werde es weiter beobachten.

Auch die neuen Angewohnheiten werde ich im Auge behalten. Noch setze ich mich zum Schreiben an den Tisch, zum Lesen auf einem Stuhl, gehe zwischendurch ein paar Schritte, laufe mehrmals täglich mindestens 20 Minuten am Stück. Zügig. Gestern Abend bin ich mit K. um den halben Schlachtensee gelaufen. Wir wären auch die ganze Runde gegangen, hätte der Winter nicht wieder einmal Spuren körnigen Eises geschickt und uns in die ehemalige Fischerhütte getrieben. Obwohl wir gleich damit heraus gerückt sind, dass wir nur einen Kakao trinken wollen, wurde uns ein Platz am Kamin gewährt.

Sehr nobel ist es dort geworden, man kann sich die plüschig schmuddlige Atmosphäre von einst kaum noch vorstellen. Ich habe sie nicht vermisst. So steif wie jetzt müsste es allerdings auch nicht sein. Alle Tische gedeckt, mit gestärktem weißen Tuch, Gläser, Besteck, als würde man hundert Menschen zum Abendessen erwarten. Drei waren erst da, hoffentlich sind noch ein paar gekommen, es war viertel vor sieben, als wir gingen.

Am Samstag haben wir uns wieder einmal bei Kaffee und Kuchen, zu fortgeschrittener Stunde bei Suppe und Rotwein, über Literatur gestritten. Bzw. festgestellt, dass wir die gleichen Bücher mögen. Was gelegentlich ja auch vorkommt. Frau Schrobsdorff z. B. die mögen wir alle.

Ich habe „Weit fort“ von Cornelia Schleime vorgestellt. Das Buch beschäftigt mich. Die Frau, die es schrieb, kommt aus dem Osten. Sie ist Künstlerin, hatte in der DDR Ausstellungsverbot, durfte 1984 nach vier Ausreiseanträgen endlich in den Westen. Mit Kind und Federbett. Ihre Bilder, ihre Kunst, musste sie zurück lassen. Das Foto von ihr in der Zeitung hatte mich angezogen. Sie schreibt über Dinge, die auch mit mir zu tun haben, mit meiner Vergangenheit, Dinge, die vielleicht jeden beschäftigen, der in der DDR aufgewachsen, irgendwann in den Westen gegangen ist und später seine Stasi-Akten gelesen hat.Was ich bisher nicht getan habe.

Cornelia Schleime wollte wissen. Aus ihren Akten erfuhr sie, dass ihr bester Freund, der Lyriker Sascha Anderson, ein Verräter war. Ein Mann, der sich im Prenzlauer Berg im Umfeld kritischer Künstler aufgehalten und diese gleichzeitig bespitzelt hatte. Ein Schriftsteller, der sogar nach seiner Ausreise nach West-Berlin nicht aufgehört hatte, weiter als IM für die Stasi zu arbeiten. Diesem Mann hatte die Malerin vertraut, ihm hatte sie sich seelenverwandt gefühlt, und er war derjenige, der sie verraten hatte. Eine traumatische Erfahrung, die man literarisch verarbeiten kann. Aus Cornelia wird im Roman Clara und Sascha Anderson bleibt namenlos. Als diese Clara Jahre später im Internet einen Mann kennen lernt und sich eine große Liebe anbahnt, zeigt sie diesem Mann einen Dokumentarfilm, der den Verrat durch den einstigen Freund zum Thema hat. Der Geliebte, Wetterfrosch bei einem bayrischen Sender und wie Clara aus dem Osten kommend, wendet sich daraufhin von ihr ab und ist fortan für sie verschollen. Nur einmal noch kann sie mit ihm sprechen, als sie ihn mit dem Handy einer Freundin anruft. Es gibt etwas in seiner Vergangenheit, das er ihr sagen müsste, aber ganz offensichtlich nicht sagen kann. So viel erfährt sie noch, und dann kommen jede Menge Spekulationen. War dieser Mann auch ein IM? Es fehlen ein paar Jahre in seiner Biografie, außerdem war er im roten Kloster, einer Kaderschmiede für der DDR wohlgesonnene Journalisten usw. usw.
Kann man alles schreiben, aber eigentlich passt das nicht zu der Frau. Das ist der Punkt, mit dem ich hadere. Wieso wird diese Frau plötzlich paranoid, jammert und suhlt sich in Spekulationen? Eine Frau, die sich von der DDR nicht hat unterkriegen lassen, vom Berufsverbot nicht, die relativ schnell im Westen Fuß gefasst hat, heute eine bekannte Künstlerin ist, warum jammert die so um diese Liebe? Diese Opferrolle passt nicht zu ihr. Aber das können wir alles beim nächsten Mal diskutieren, ich habe das Buch weitergegeben und bin gespannt, was die anderen davon halten. Ich habe heute keine Meinung mehr. Dafür bin ich zu müde. Und sitze zu lange.

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