Die Fassaden der Häuser im Hinterhof glitzern. Das Weiß ändert ständig seine Farbe, es changiert, abhängig von der Stärke und dem Winkel der Sonneneinstrahlung. Es ist eine Weile her, dass ich so gelöst in den Tag hinein gelebt habe. Zwei Wochen, die mir vorkommen wie zwei Monate. Seit vierzehn Tagen fahre ich fast täglich zu meinem Vater ins Krankenhaus. In verschiedene Krankenhäuser, da er in der Zeit schon zweimal verlegt wurde.

Jedes Mal, wenn ich von Buch kommend am Bahnhof Friedrichstraße umsteige, sehe ich ein großes Werbeplakat. Eine Frau, irgendwo zwischen fünfzig und sechzig pendelnd, dank Anti-Age-Colorierung mit Sicherheit um Jahre verjüngt, lächelt zwar nicht den Betrachter, dafür aber irgend jemanden in der Nähe an. Unter dem Bild die suggestive Frage, ob ich auch so jung aussehen möchte, wie ich mich fühle. Mein Gott denke ich dann, ich will schon froh sein, wenn ich nicht so alt aussehe.

Seit vierzehn Tagen fühle ich mich jeden Tag ein wenig mehr wie eine Mutter, die darauf achten muss, dass ihrem Kind nichts passiert. Das Kind ist gerade sechsundsiebzig geworden. Ich stelle ihm täglich dieselben Fragen. Hast du dir etwas geben lassen, damit du schlafen kannst? Wie war die Nacht? Hast du gegessen? Was hast du gegessen? Haben sie es dir so klein gemacht, dass du es schlucken konntest? War der Arzt da? Was hat er gesagt? Soll ich dir noch ein Stück Torte aus der Cafeteria holen? Du trinkst zu wenig, das ist gar nicht gut.

Ich hatte davon gehört, dass sich in späteren Jahren die Rollen umkehren, dass wir manchmal binnen weniger Minuten vom Kind zur Mutter oder zum Vater werden für Eltern, die wir bis dahin als stark und autonom erlebt haben. Ich hatte allerdings darauf gehofft, dass dieser Kelch an mir vorüber gehen möge. Man kann sich die Dinge nicht aussuchen sagt die Tante, wenn ich abends mit ihr telefoniere, um über den Zustand unseres Kranken zu berichten. Damit hat sie wieder einmal Recht.

Vor fünfunddreißig Jahren hatte mein Vater das erste Mal Krebs. Die Prognosen waren damals alles andere als hoffnungsvoll. Ein weiteres Jahr Lebenszeit hatte man ihm versprochen, bevor man ihn bestrahlte, den halben Kiefer und ein Stück von der Zunge entfernte, Haut vom Bein an den Hals verpflanzte, weil sich die Wunde dort nicht schließen wollte. Immer wenn man den Vater gefragt hatte, wie es ihm geht, hatte er gut gesagt. Ich habe noch Fotos, auf denen er mit dem Schlauch von der Magensonde in der Nase und einer Zigarette in der Hand zu sehen ist. Damals hat er den Krebs besiegt. Kettenrauchend, wie meine Tante es neulich treffend formulierte. Alle haben gestaunt. Die Ärzte sowieso. Wie macht er das nur? Mit eisernem Willen? Steckt ein System dahinter? Ich vermute mangelnden Respekt. Was? Krebs habe ich? Was bildet der sich ein? Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, wie ich zu leben habe.

Jetzt gibt es einen Tumor in der Lunge. Die gute Nachricht besteht darin, dass der Tumor noch klein ist und keine Metastasen gebildet hat. Die schlechte, dass der Vater für eine Operation oder Chemotherapie zu schwach ist, und aus diesem Grund nur bestrahlt werden kann. Klein ist er geworden, völlig abgemagert, vierzig Kilo wiegt er gerade mal, zwanzig Kilo zu wenig für seine Größe. Ich hatte ihn fünf Jahre nicht gesehen, über die Tante allerdings alle relevanten Informationen erhalten. Dass er seine demente Frau pflegt. Dass er letztes Jahr eine Lungenentzündung hatte, von der er sich nur schwer erholt hat.

Es gibt Familien, in denen während längerer Phasen geschwiegen wird. Nicht immer können Außenstehende nachvollziehen, warum Kinder ihren Eltern aus dem Weg gehen oder umgekehrt. Wir haben es beide für das beste gehalten. Nun finde ich ihn plötzlich so krank. So krank und so froh darum, dass ich da bin, und ihn, wenn es möglich ist, mit dem Rollstuhl in den Garten schiebe, damit er dort heimlich eine, manchmal auch zwei Zigaretten rauchen kann. Ja, ich weiß, dass es verkehrt ist, dass er den Krebs bestimmt hat, weil er nie auf das Rauchen verzichten konnte. Aber es ist das Einzige, das er sich neben einem Stück fetter Torte und dem Gesundwerden wünscht. Ich habe nicht das Herz, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Dann bin ich eben eine schlechte Mutter.

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