Ich habe Vor-Geburtstags-Panik. Angeblich habe ich die jedes Jahr. Und jedes Jahr glaube ich, dass es in diesem Jahr ganz besonders schlimm ist. Schlimmer als in den Jahren davor. Alles ist organisiert, der Tisch im Restaurant bestellt, die Freunde eingeladen, die Familie ebenfalls, und ich möchte auswandern. Mich in ein Mauseloch verkriechen. Alles machen, nur eben nicht den Geburtstag feiern.

Schön war die Geburt sowieso nicht, wenn ich den Augenzeugen Glauben schenke. Die Mutter halb tot, es fehlten Haare und ein paar Zähne, das Kind monatelang im Krankenhaus, so richtige Freude will da nicht aufkommen. Auch nicht, wenn ich von der Tante höre, wie mein Vater nachts weinend am Bett seiner Mutter stand, um ihr immer wieder zu sagen, dass es ein Mädchen ist. Er hatte bereits ausgiebig gefeiert, so wie er häufig einen Anlass gefunden hatte, das Leben zu feiern.

Nun ist er tot, begraben in Pankow, nicht weit entfernt von seinem Vater, der Mutter, ein paar alten Freunden vom Iderfenngraben, die vor ihm gegangen sind, und ich kann ihm nicht mehr sagen, dass ich ihn jetzt besser verstehe.

Als die Tante zur Beerdigung da war, haben wir viel geredet. Sie hat mir von der Zeit in Oberschlesien erzählt, von der großen Armut, von meinem stolzen und dickköpfigen Großvater, der sich weigerte, Pole zu werden. Der dafür in Kauf nahm, arbeitslos und somit meist hungrig zu sein. Der seine Kinder in eine deutsche Klasse an einer polnischen Schule schickte, wo sie von den anderen Kindern wegen des Starrsinns ihres Vaters gehänselt wurden.

Die Tante hat mir auch von meiner Großmutter erzählt, die es mit diesem Mann nicht leicht hatte. Die für ein paar Zloty Milch austragen musste und Wäsche waschen und ihre Tochter zur Großmutter schickte, wenn gar kein Geld mehr da war, um wenigstens einen Zloty für Brot zu erbetteln. Die Tante hasste diese Gänge. Doch dem großen Bruder ging es nicht besser. Der wurde in den Ferien schon morgens losgeschickt, um auf den Halden nach Kohle zu suchen. Ein weiter Weg für ein kleines Kind. Erst am Abend wurde er von Mutter und Schwester mit einem Handwagen wieder abgeholt.

Als der Großvater eine Minderheiten-Partei gründen wollte, bekam er Ärger mit den polnischen Beamten und flüchtete 1937 nach Deutschland. Weil er so arm war und sich keine Fahrkarte kaufen konnte, fuhr er die gesamte Strecke mit dem Rad. In Berlin arbeitete als Bäckergehilfe und Rohrleger, während seine Frau in Hohenlinde die wenigen Habseligkeiten verkaufte, die noch da waren, um eine Weile über die Runden zu kommen. 1938 folgte sie ihrem Mann mit den vier Kindern nach Berlin. Was hätte sie sonst auch tun sollen? Der Jüngste war gerade mal ein paar Monate alt, der mittlere, mein Vater also, war sechs, die Tante vierzehn, der Älteste sechzehn.

Im ersten Jahr wohnten alle in einer winzigen Laube, später bekamen sie in Niederschönhausen eine kleine Wohnung für 360 Mark Miete im Jahr. Obwohl meine Großmutter jetzt sogar einen kleinen Garten hatte, war sie nicht glücklich. Sie wäre lieber im Kohlenpott geblieben, bei ihren Halbgeschwistern, die keine Probleme damit gehabt hatten, sich zu Polen zu bekennen.

Die Tante erzählte auch, dass es ihnen im Krieg das erste Mal gut gegangen wäre. Es gab Butter, und der Vater hatte Arbeit, so dass die Butter auch gekauft werden konnte. Und weil sie ein Mädchen war, weil sie eines Tages sowieso heiraten würde, war es völlig selbstverständlich, dass sie ohne Ausbildung blieb und in der Fabrik arbeitete, damit der große Bruder einen Beruf lernen konnte und die Kleinen etwas zu essen hatten.

Ein wenig Stolz war auch in ihrer Stimme, als sie darüber sprach. Sie hatte manchmal mehr als der Vater verdient. Achtzig Mark im Monat, von denen sie keine einzige für sich behalten konnte. Sie hat sich nicht darüber beschwert. Auch nicht darüber, dass sie nie ohne ihre beiden kleinen Brüder irgendwohin gehen durfte. Das war damals so, sagt sie heute.

Dass der Vater in den letzten Kriegstagen noch zum Volkssturm musste, damit hatte niemand gerechnet. Er kam in russische Gefangenschaft, später hieß es, man habe ihn auf der Flucht erschossen. Er war neunundvierzig, als er starb. Im November 1945 musste der Älteste nach Zehlendorf fahren, das Grab wurde noch einmal geöffnet, es ging darum, den Leichnam des Vaters zu identifizieren. Da hatte die Verwesung längst eingesetzt. Abends soll er zu Hause einen Wutanfall bekommen haben.

Mein Vater war dreizehn damals. Er sprach nicht gern über diese Zeit. Und wenn er etwas nicht wollte, dann wollte er es nicht. Basta. Für mich fing seine Geschichte an, als er ein junger Mann war, zwanzig Jahre jung, charmant, attraktiv, ein guter Tänzer, der sich meiner damals achtzehnjährigen Mutter mit den Worten vorstellte, „sie werden sich vielleicht wundern, aber sie werde ich mal heiraten“. Ich mag diese Geschichte. Und wenn diese beiden jungen Menschen sich nicht so geliebt hätten, wenn sie nicht so wunderbar getanzt hätten in Wandlitz, dass die anderen Tänzer stehen bleiben mussten und ihnen zusehen, dann hätte ich zwar heute keine pränatale Depression, aber es gäbe auch niemanden, der davon erzählt, der es aufschreibt und festhält.

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