Der Tag hatte um 2 mit einer Panikattacke begonnen, und besser ist es nicht geworden. Aber wenigstens hatte die Pfarrerin ihr Versprechen gehalten und nicht übermäßig salbadert. Die eigentliche Rückschau auf das Leben meiner Mutter war kurz – ich weiß ja von meinem verstorbenen  Redner, wie viel Zeit da eingeplant ist – aber die Details stimmten. Meine Mutter hätte gern studiert, ihr Vater hat ihr das nicht gestattet. Das Mädel wird schließlich mal heiraten. So war das Ende der 40er Jahre noch.

Wir hörten von ihrer früheren Lebenslust, die ihr in den letzten Jahren abhanden gekommen ist, von ihrer Freude an der Arbeit, an den schönen Reisen und Kreuzfahrten mit meinem Stiefvater, von ihrer großen Liebe zu ihrem Enkel.

Es gibt Wunden, die nie wirklich verheilen, und in bestimmten Situationen brechen sie auch wieder auf. Ich hatte Mühe, die halbe Stunde zu überstehen. Es kam mir vor, als würde ich keine Luft bekommen. Draußen wurde es etwas besser. Zumal der Geiger einen sehr guten Job gemacht hat. In der eisigen Kälte und ohne Handschuhe. Sehr berührend.

Am Ende bin ich noch einmal zurück an die Urnenstelle gegangen. Ich wollte wenigstens eine Minute allein sein dort. So wie ich auch im Krankenhaus gern mit ihr allein gewesen wäre, nur spüre ich manchmal meine Bedürfnisse erst mit einer gewissen Zeitverzögerung. Als ich durch die Gräberreihen zu den anderen ging, öffnete sich der Himmel, und dieses Leuchten von oben war plötzlich so stark, ich hätte eine Sonnenbrille gebraucht.

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