In der Nacht vom 9. auf dem 10. November war ich am Checkpoint Charlie. Ich hätte dieses ungeheuerliche Ereignis verschlafen, wenn nicht jemand Sturm geklingelt hätte. Eine Schulfreundin aus Prenzlauer Berg hatte sich, gleich nach dem sie durch das Fernsehen mitbekommen hatte, was sich an der Bornholmer Brücke abspielte, mit ihrem Mann zu Fuß auf den Weg zur Grenze gemacht, hatte die Grenze passiert und war von dort per Anhalter nach Neukölln gefahren. Direkt vor meine Haustür.

An die ersten Minuten kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich hatte auf Autopilot geschaltet. Der zog mich an, kochte Kaffee, ging mit den anderen auf die Straße, stieg in ein Taxi, das uns zur Friedrichstraße brachte. Dort tranken wir mit unbekannten Menschen Sekt, umarmten uns, küssten und ließen uns küssen. Mein Freund war als einziger in der Lage, der BBC ein kleines Interview zu geben, da uns anderen die englischen Wörter abhanden gekommen waren. Ich fühlte mich fremd in meinem Körper. Dies geschah einer anderen. Gleichzeitig war ich wie berauscht. Vom Sekt, von dem Trubel und von dem neuen Leben, das plötzlich möglich schien.

Und nun ist es normal. Die Mauer ist weg. Ich fahre in die Sächsische Schweiz, an die Müritz, in die Alpen, nach Hiddensee. Nirgendwo muss ich meinen Ausweis zeigen, nie muss ich an den Feiertagen mit dem Auto in einem Stauraum stehen, stundenlang, nur damit ich West-Berlin, diese Insel der Seeligen, verlassen kann. Ich habe mich daran gewöhnt.

Manchmal sage ich zum Mann, gleich sind wir an der Grenze, hast du deine Papiere dabei? Er ist nie Transit gefahren, kennt sich aber trotzdem aus. Er hofft, dass die Schlange nicht so lang ist, sagt er dann, und wir gackern wie die Hühner. Wir sind uns bewusst, welches Geschenk der 9. November für uns gewesen ist. Meine Oma hätte sich ein Loch in den Hintern gefreut. Solche Formulierungen liebte sie. Sie hat immer gesagt, Kinder, erinnert euch an meine Worte, die Mauer wird nicht stehen bleiben, das können sie mit den Menschen nicht machen, das werden die sich nicht ewig gefallen lassen. Ich habe sie belächelt, wie Teenager es tun, weil sie glauben, dass sie die ersten Menschen auf der Welt sind, die mit vollem Durchblick geboren wurden. Ich dachte, sie ist ja nett, die alte Dame, Ahnung hat sie keine.

Meine Oma starb 1977, ich reiste 1981 aus der DDR aus und glaubte, es wäre eine Trennung auf Lebenszeit. Natürlich wusste ich vorher, auf was ich mich einlasse. Man hatte mich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich mit meiner Ausreise alle Brücken zur DDR abbrach. Dass ich freiwillig meine Familie, meine Freunde verließ und damit jedes Recht auf spätere Besuche verwirkt hatte. Ich wusste es, und wusste es auch wieder nicht.

Gott sei Dank hatte mir vorher niemand gesagt, wie allein ich mich mit meinem kleinen Sohn in diesem winzigen Appartement fühlen würde, zu dem ich ein paar Tage zuvor noch 1-Raum-Wohnung gesagt hätte. Wie eigenartig und befremdlich mir die Westler und ihre Fragen vorkommen würden. Hatten wir jahrelang auf verschiedenen Sternen gelebt, dass sie uns so wenig kannten? Aber ich war jung, voller Elan, und stark fühlte ich mich auch. Ich hatte mich so entschieden, dann konnte ich hinterher nicht meckern. Außerdem könnte ich eine Partei der Unzufriedenen gründen. Das hatte ich mir schließlich vorgenommen. Nicht unbedingt eine Partei zu gründen. Aber die Welt wollte ich schon ändern. Ein wenig jedenfalls. Was man sich mit 25 eben vorstellt.

Bevor ich damit anfing, las ich die Bücher, die ich schon immer hatte lesen wollen. Ging in den Plattenladen und hörte mir die neue Scheibe von Pink Floyd an. Kaufte mir alte Hendrix und Janis Joplin Platten. Ärgerte mich, weil mich niemand von den Freunden, männlichen Freunden hauptsächlich, die mich wegen meiner großen Zuneigung für ABBA früher gehänselt hatten, dabei sehen konnte. Darüber verging die Zeit.

Ich änderte die Welt nicht, ich arrangierte mich mit ihr. Und oft stand ich an der Brücke Bornholmer Straße und sah sehnsüchtig meinem Sohn hinterher, der an der Hand einer Tante, manchmal auch an der Hand eines Unbekannten, der sich als Reisebegleiter angeboten hatte, auf dem Weg in den Osten zu Oma und Opa war. Ich starrte genau so sehnsüchtig auf die andere Seite, wie ich früher vom Ostteil der Stadt in den Westen geblickt hatte. Eine paradoxe Welt. 1989 wurde sie wieder eingerenkt. Vieles hätte man danach anders machen können oder müssen. Mir tut es vor allem leid, dass ich in dieser Nacht vor 18 Jahren meinen Sohn nicht geweckt habe.

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