Es ist eigenartig, aber in meiner Erinnerung verschwimmen die Orte, die Erlebnisse jetzt schon zu einer Art Wimmelbild, wie ich sie früher mit dem kleinen Mädchen in Halle so oft anschauen musste. Da war ich in dem alten Wald, dort auf dem Berg, da saß ich am Meer, hier taucht die verwaschene Sicht auf das Heidelberger Schloss auf. Ich weiß nicht, wie das Weltreisende machen oder Reiseblogger, die ständig von einem Ort zum nächsten ziehen. Ich wäre nach einer Weile doch ziemlich gaga. Und dafür wäre nicht das Stendhal-Syndrom zuständig. Ich brauche nämlich Zeit. Ehe ich mich mit einem Ort innerlich vertraut gemacht habe, das dauert Wochen. Monate. Jahre?
Gestern ein typischer Regentag, was aber gar nichts machte, da ich ohnehin bis zum Nachmittag beschäftigt war. Später bin ich zur Chiesa di Santo Spirito gelaufen. Dort im Kloster hat der junge Michelangelo seine ersten (verbotenen) Studien an Toten betrieben, und auch das Kruzifix, sein erstes Meisterwerk, ist dort zu sehen. Allerdings habe ich erst einmal gar nichts gesehen. Ich habe gehört. Und ich dachte, nun gut, jetzt werden die Kirchen eben mit christlicher Musik beschallt. Dabei waren es tatsächlich gerade mal drei Menschen, Sopran, Alto, die Stimmlage des Mannes konnte ich nicht zuordnen, die mir einen ganzen Chor vorgaukelten. Sie wurden von einer Frau am Klavier begleitet, und eigentlich übten sie auch nur, das war nach kurzer Zeit klar, aber das war so schön, ich musste mich setzen. Ich weiß nicht, ob es die Stimmung in der Kirche war, oder die Lichter in der Dunkelheit auf der Piazza, der immer heftiger werdende Regen, aber als ich später alleine beim Aperetivo in einer neuen Bar saß, hatte ich immer noch ein paar Tränen in den Augen und war aufgewühlt.
Jetzt scheint die Sonne, das ist gut für die Marathon-Läufer, aber ich werde nach dem Frühstück zur Santa Maria del Novella laufen. Ab Mittag soll es regnen, da bin ich in der Kirche gut aufgehoben.