Auch wenn ich das Sinnvolle meines Tuns gelegentlich anzweifle, arbeite ich konzentriert. Während mein junger Mitbewohner gestern am späten Abend  noch zu einem Spaziergang aufgebrochen ist, nach einem langen Tag in der Charité braucht er Bewegung, sagt er, bin ich standhaft am Schreibtisch sitzen geblieben. Bis kurz vor Mitternacht, dann fiel mir auf, wie müde ich war, die Muskulatur total verspannt, da nützen die kleinen Pausen, in denen ich turne, offensichtlich nur wenig. 

Zum Runterkommen noch ein paar Seiten lesen. Unter den Dingen, die D. vor ihrer Abreise ausrangiert hat, habe ich neben einem netten schwarzen Shirt auch zwei Bücher  gefunden, die mich interessieren. Thomas Glavinic „Das bin doch ich“ ist eins davon. Es ist noch gar nicht lange her, da hat mich „Das Leben der Wünsche“ mit seiner eigenartigen Versuchsanordnung mehr verstört als erfreut. Das ist diesmal nicht der Fall.

Die Geschichte eines Schriftstellers, der Thomas Glavinic heißt. Gerade hat er ein neues Buch vollendet, ein Verlag ist noch nicht in Sicht, das quält ihn, aber seine Agentin Karin Graf, natürlich, wer sonst, gibt sich alle Mühe, einen zu finden, und dann wird auch noch Freund Kehlmann für den Buchpreis nominiert. Wie wir längst wissen, bekommt er ihn dann auch. Die Namen der Protagonisten sind bekannt, das befriedigt den voyeuristischen Teil in mir, auch wenn mir hier vielleicht einer mit Absicht Potemkinsche Dörfer vorsetzt.

Dieser Thomas ist Hypochonder und hat ständig Angst, dass seine Hoden geschwollen sind, angeblich ein Zeichen für Hodenkrebs, deswegen schaut er sie nicht an, wenn er duscht. Mit seinem kleinen Sohn mag er nicht auf den Spielplatz gehen, weil er befürchtet, er könnte gegenüber einem anderen Kind, das zu seinem Sohn böse ist, tätlich werden. Wenn er mit wichtigen internationalen Schriftstellern zusammen ist, die Namen Safran Foer, Vargas Llosa tauchen auf, betrinkt er sich dermaßen, dass er unangenehm auffällt. Das alles beschreibt er so komisch, ich habe im Bett gelegen und mich geschüttelt vor Lachen.

Außerdem gibt es ein paar schöne Stellen, da spricht er mir aus der Seele, dieser Thomas Glavinic. Er sitzt in der Jury, die einen wichtigen Filmpreis zu  vergeben hat und man kann sich nicht einigen, ob ein künstlerischer Film prämiert werden soll oder lieber ein schlechter Dokumentarfilm, mit dem man aber politisch ein Zeichen setzen könnte. Dazu schreibt er: „Und jetzt wird mir endlich klar, warum ich mich schon die ganze Zeit über so unwohl fühle. Nicht weil sie andere Meinungen haben als ich, nicht weil sie einen schlechten Film auszeichnen wollen, nicht weil sie eitel sind. Mich stört, dass sie auf alles eine Antwort haben, prompt und ohne Zögern. Sie sind sich ihrer Meinungen so sicher.“

Dazu passt dann auch, dass von klugen Leuten empfohlen wird, in der Woche mindestens einen meinungsfreien Tag einzulegen. Sehr befreiend, falls man das schafft, ich habe es schon einmal ausprobiert. Tut mir leid, ich habe mir noch keine Meinung gebildet, ich weiß nicht, wie ich das finde, nein, dazu kann ich nichts sagen, sorry, Schulter hoch, Mundwinkel nach unten, eigentlich ganz einfach. Deswegen vergesse ich es wahrscheinlich auch immer wieder.

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