befindet sich hinter der Marktkirche St. Benedikti, in der mich eben noch ein Mann aus einem Steinrelief heraus betörte. Es kam mir vor, als würden wir uns kennen, näher kennen, ziemlich nah sogar, und hätten mich nicht dringende Angelegenheiten von ihm fortgezogen, stünde ich wohl noch immer bei ihm. Die freundliche Toilettenfrau erkennt mich. Ich erzähle ihr, dass ich überlege, ein Abo bei ihr abzuschließen. Wer weiß, wie oft ich heute noch vorbeikomme. „Ein anderes Thema. Wenn ich hier so quer gehe, komme ich dann zu Sankt Nikolai?“ Sie hebt den Kopf. „Die Kirsche?“ Ich liebe diesen Dialekt.

Die Neustadt sieht kaum jünger aus als die Altstadt, und dann finde ich auch die Kirche. Angefangen als romanische Basilika wurde sie später im gotischen Stil weitergebaut. Ich fühle mich zur Gotik hingezogen. St. Nikolai in Stralsund ist meine Lieblingskirche, St. Marien in Lübeck, quasi die Mutter aller gotischen Backsteinkirchen, meine Zweitliebste.

In Stralsund musste ich früher immer weinen. Angefangen mit dem Weinen in Kirchen hatte es ja 1998 in der Kirche aller Nationen im Garten Getsemani in Israel. Dann hatte es ein paar Jahre gedauert, bis es wieder passierte. 2003 oder 2004 in St. Nikolai in Stralsund. Ich habe die Kirche zusammen mit meiner inzwischen verstorbenen Freundin besichtigt, die sich damals natürlich – genau wie ich eigentlich – über meine plötzlichen Tränen gewundert hatte. Ist was? Was ist los? Nichts ist los. Ich weiß nicht, warum ich weine. Und das war die Wahrheit, ich wusste es nicht. Und warum ich jetzt weine, das weiß ich auch nicht. Ich habe ja nicht über diese Dinge nachgedacht, das mache ich erst später. Aber kaum sitze ich, quellen die Tränen nur so aus mir heraus. Anders als sonst – wo ich meist still und lautlos geweint habe – bebt mein Körper, schluchze ich hörbar. Es dauert ein paar Minuten, dann ist „es“ vorbei.

Vielleicht ist dies ein guter Ort, um nach einem Zeichen zu fragen. Sag mir, oder sagt mir, was ich tun soll. Wohin soll ich gehen? Fürs erste suche ich mir einen sonnigen Platz am Markt. Es ist so warm, dass ich nur im Shirt sitzen kann. Aus dem Bücherregal in meinem Apartment habe ich ein Buch mitgenommen. Leichte Lektüre. Ich schlage es auf und lese einen Absatz. „Ich bin noch zu keinem Schluss gekommen. Ich weiß nur, dass ein Leben, in dem es um nichts geht, ein Leben ist, von dem nichts bleiben wird. Und ich darf nicht zulassen, dass mir das passiert. Wenn nötig, werde ich den Rest des Jahres mit Reisen verbringen.“ 

 

 

 

Einen Kommentar schreiben

Ihre Daten werden niemals an Andere weiter gegeben.
Die Email-Adresse wird nicht angezeigt. Notwendige Felder sind so markiert: *

*
*