Große Lust habe ich nicht, nach Niederschönhausen zu fahren. Hast du nicht, aber hinterher wirst du dich freuen, weil du dich überwunden hast. Ich finde Klassentreffen blöd, oder hast du diese „mein Haus, mein Mann, meine tollen Kinder, die natürlich in Amerika studieren“ Fotos und Arien vergessen? Mein Gott, stell dich nicht so an, das ist doch Jahre her, und eine andere Klasse war es auch. Und heute ist es eine Schulfeier, das ist etwas völlig anderes. Außerdem fahre ich nicht gern 90 Minuten durch die Stadt. Dann hättest du dir ein Buch mitnehmen sollen. Und jetzt hör auf zu nörgeln und trink deinen Kaffee.

Es ist 37 Jahre her, dass ich das letzte Mal in diesem Teil von Pankow war. Und glücklich war ich da auch nicht. Abi-Abschlussfeier, ich in maßgeschneiderten, sehr weiten und sehr lila Marlene-Hosen mit einem sehr engen orangen Oberteil. Wenigstens in puncto Kleidung hast du dir heute nichts vorzuwerfen.

Herrmann-Hesse, Dietzgenstraße, alles sieht anders aus, aber hier war ich schon einmal. Du bist eben ein altes Pferd, das den Weg immer noch kennt. Am Eingang kleinere Gruppen älterer Menschen. Hm. Es ist schließlich die 100-Jahr-Feier. Schon mein Stiefvater hat 1956 auf der Friedrich-List sein Abitur gemacht. Bilde dir bloß nicht ein, dass du jünger aussiehst. Sehe ich nicht?

Nirgendwo ein Gesicht, das ich ansatzweise einem mir ehemals bekannten Menschen zuordnen könnte. Auf dem Schulhof ist es voll, überall Grüppchen von Leuten, die sich schon gefunden haben. Komm mir jetzt nicht mit der Leier, das wäre typisch oder so, weil du mal wieder nirgendwo dazu gehörst. Habe ich überhaupt nicht gedacht.

Ich mache ein Foto von dem großen Platz zwischen den beiden Schulen. Früher haben wir da heimlich geraucht, getuschelt, mit den Jungs von der Schule nebenan geflirtet, da konnte man Berufsausbildung mit Abitur machen. Allerdings haben sich die älteren Jungs nicht für mich interessiert. Dafür gab es andere, die sich für dich interessiert haben. Hattest du nicht jede Menge Spaß mit Y.R., wenn ihr in Pankow im Café gesessen und geraucht, stundenlang geredet und den einen oder anderen Wermut gekippt habt? Sollte man sich nicht noch an ein paar andere Dinge erinnern, was die eigene Schulzeit angeht?

In der Singegruppe war ich. Das war auch schön. Stimmt, du hast sogar ein Solo in einem großen Kino gesungen. Aber das solltest du besser vergessen, es war nämlich furchtbar. Wenn dieser Morgen kommt und dieser Tag, da wird ein Lachen sein, ein großes Lachen sein, und doch viel Zorn noch übrig. Ein Lied gegen den Vietnamkrieg. Schrecklicher Text, alles in Moll, und du hast ständig einen halben Ton daneben gelegen. Danach habe ich das öffentliche Singen aufgegeben. Besser war´s.

Unser Jahrgang trifft sich in der zweiten Etage. Viele Menschen, allerdings keiner aus meiner Klasse. Auch zu den ausgetauschten Erinnerungen kann ich wenig besteuern, ich weiß nicht einmal, in welcher Klasse ich nun war, auch der Name unseres Klassenlehrers fällt mir nicht ein. Also der Mathelehrer war es nicht, der hatte keine eigene Klasse, erklärt mir eine Frau aus der Parallelklasse. Ich bin erstaunt von dem Wissen der anderen, schau mir das Treiben eine Stunde lang an, schreibe einmal meinen Namen auf einen Zettel, frage die Hereinkommenden nach ihrem Jahrgang, nein, wieder niemand, den ich kenne.

Irgendwann, draußen gießt es inzwischen in Strömen, mache ich mich auf den Heimweg.
Und? War das nun so schlimm? Nein, war es nicht. Vielleicht mache ich das in zwanzig Jahren sogar mal wieder.

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