Die Schwestern hatten großes Glück, sie waren unter den letzten zehn, die noch Karten für „The Artist is Present“ bekommen haben. Ich hatte meine Begeisterung mal wieder so laut und wohl auch so überzeugend heraus posaunt, dass sie den Film nun unbedingt selber sehen mussten. Kurz vor 19.00 Uhr ein Anruf aus der Kaffeebar, da sind zwei Freundinnen für dich. Und dann ihre beseelten Gesichter. Das war schön. Aber es hätte mich auch gewundert, wenn der Film sie nicht genau so wie mich berührt hätte. Habt ihr auch geheult? Sie nicken. Natürlich. Und während sie sich Kaffee und Kuchen bestellen, denke ich, wunderbar, jetzt kommen sie also hierher, in mein Kino.

Wäre meine Pause nicht begrenzt, würden wir wohl noch ewig über Marina Abramovic reden, über diese großartige Performance-Künstlerin, die 2010 drei Monate lang täglich sieben, manche sagen acht Stunden, im MoMa in NY saß und den Leuten nur ins Gesicht bzw. in die Augen sah. Man durfte, wenn man es endlich geschafft hatte, ihr so lange gegenüber sitzen, wie man wollte. Wenn man es denn aushalten konnte.

Mich haben vor allem die Gesichter der Besucher beeindruckt. Über manche ging plötzlich ein Leuchten, während andere nach kurzer Zeit weinen mussten. Am Ende des Tages rutschte die Künstlerin manchmal von ihrem Stuhl und begab sich in die Yoga-Entspannungsposition, ein bewährtes Mittel gegen Schmerzen. Der Direktor des MoMa hatte ihr schon nach ein paar Wochen angeboten, die Performance abzubrechen, aber eigentlich wird ihm klar gewesen sein, dass Marina Abramovic damit nicht einverstanden war.

In einem Zeitungsinterview mit ihr habe ich eine interessante Stelle gefunden. Sie sagt: „Die wenigen Dinge, mit denen Menschen noch immer Probleme haben, sind ihre Sterblichkeit, Leiden und Schmerz. Davor haben wir Angst. Ich habe bei meiner Arbeit schon sehr früh herausgefunden, dass ich mich nicht verändern werde, solange ich immer nur Dinge tue, die ich mag. Nur wenn du Dinge machst, vor denen du Angst hast, die du nicht wirklich kennst oder die sogar völliges Neuland für dich sind, nimmst du neue Perspektiven ein. Du erreichst ein anderes Bewusstsein.“

Vielleicht bewirkt meine ungewöhnliche Arbeitszeit eines Tages, dass ich ebenfalls ein anderes Bewusstsein erreiche. Eines, in dem ich dem Nachtbusfahrer nicht an den Hals springen möchte, weil er ein paar nicht mehr ganz nüchternen jungen Frauen sehr ausgiebig, ausgiebiger als nötig, wie ich finde, den weiteren Weg erklärt.

Erstaunlicherweise schaffe ich trotzdem die letzte Regionalbahn, die mich nach Falkensee bringen soll. Zum Umsteigen bleiben mir am Zoo genau zwei Minuten. Ziel erreicht um 3.30 Uhr. Hund kommt die Treppe herunter gehumpelt, wenn man Hunde- in Menschenjahre umrechnet, dann sind wir in einem Alter, und ihm tun genau wie mir die Knochen weh. Manchmal sieht es sehr komisch aus, wenn aufsteht. Aber wenn er Stöckchen jagt oder Fußball spielt, dann ist davon nichts zu merken. Er jault und quiekt, ob jetzt vor Schmerzen oder vor Begeisterung, ich weiß es nicht, noch schnell eins von den neuen Leckerlies, und am Ende schlafen alle friedlich.

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