Ich bin froh, dass Weihnachten vorbei ist. Mehr könnte ich auch nicht ertragen. Von meinen Hüften will ich mal gar nicht sprechen. Andererseits, soll man all die guten Sachen etwa verkommen lassen? Angefangen bei den leckeren Trüffeln von der einen, dem Quittenkonfekt von einer anderen Freundin, dem Wintereis des Mannes, den köstlichen selbst gemachten Nuss-Ecken von der Tante? Bei meinen Eltern war es ein mittelgroßes Stück vom schwedischen Apfelkuchen, nach dem Hirschbraten noch eine kleine Portion vom Dessert. So addieren sich all die kleinen Portionen zu einer riesigen.

Heute Nacht bin ich aufgewacht, weil mir schlecht war. Ich sollte ein paar Fastentage einlegen. Mit „ich sollte“ komme ich bei mir leider gar nicht weiter. Alles, was ich eigentlich tun sollte, hasse ich so sehr, dass ich es ganz bestimmt nicht tun werde. Die Tante sagt, man muss es gar nicht erst so weit kommen lassen, die Kunst bestünde darin, in Maßen zu genießen. Sie kann das, ihre Figur ist immer noch die eines jungen Mädchens.

Gestern habe ich mich bei ihr für unser Päckchen bedankt. Es war bestimmt nicht einfach, das Ding auf die Post zu schleppen. Auch wenn die Tante mit 84 Jahren noch fit ist, regelmäßig alleine verreist, bis vor ein paar Jahren noch Schlittschuh lief, im Sommer schwimmen geht, das Tragen fällt ihr schwer, und dieses Päckchen hatte es in sich. Aber solche Dinge zu tun, findet die Tante normal. Man beschenkt die Angehörigen halt, und dann kann man nicht meckern, wenn man mal etwas mehr tragen muss. Denn schenken bedeutet ja, dass man an den anderen denkt, dass man ihm ein Stück Zuneigung gibt. Viele Angehörige hat sie sowieso nicht mehr, einen Bruder und die Nichte in Berlin, einen anderen Bruder und eine weitere Nichte in Australien. Sie selber lebt seit vielen Jahren allein, seit der Onkel gestorben ist.
Einsamkeit ist ein Zustand, den sie kennt, über den sie aber nicht jammert, sagt sie. Weil jammern ja auch nicht hilft. Und zu Hause sitzen und darauf warten, dass mal jemand auf einen zukommt, das ist auch keine Lösung. Weihnachten und Silvester allein? Na und? Sie hatte am 4. Advent drei Freundinnen da, sie hat sie auf ihren Reisen kennen gelernt, für die hat sie gekocht und gebacken. Sogar Sekt gab es. Dann war Weihnachten eben schon am 4. Advent.

Die Tante ist eine weise Frau. Dabei war der Tod meines Onkels ein riesiger Schock, wie für viele andere Frauen ihrer Generation übrigens auch. Das hat nicht nur mit der Tatsache zu tun, dass sie plötzlich allein war und mit diesem Zustand zurecht kommen musste. Sie musste auch all die Dinge lernen, die für Frauen meiner Generation vollkommen normal sind. Geld auf der Bank abheben oder einzahlen, einen Geldautomaten benutzen, Verträge abschließen, eine Reise buchen, Rechnungen bezahlen usw. usw. Früher haben sich Männer um solche Sachen gekümmert. Im Falle meines Onkels musste das nicht einmal etwas mit Bevormundung zu tun haben, bei ihm war es Fürsorge, Liebe. Vielleicht auch Dankbarkeit, denn immerhin hat meine Tante ihn, den Halbjuden, kennen gelernt und an dieser Beziehung festgehalten, als das in Deutschland gar nicht üblich war.
Die Tante hat nicht nur gelernt, alleine zu sein, alleine zu reisen. Sie macht auch all die anderen Dinge, die ihr früher unmöglich oder schwierig erschienen. Ohne Murren, ohne einen Funken Selbstmitleid. Lakonisch sagt sie, so ist es, also muss man damit leben. Mit den Schmerzen im Alter, mit der Einsamkeit, dem Alleinsein, mit der fehlenden Glühbirne im Bad auch. Denn die war kaputt, und obwohl eine neue eingeschraubt wurde, funktionierte es einfach nicht. Die Tante rief einen Handwerker an, bat ihn vorbeizukommen. Der Mann kam nicht. War ihm wahrscheinlich zu wenig Geld, sagte sie, wer fährt schon wegen einer Glühbirne durch die Stadt. Sie rief einen zweiten Handwerker an, saß wegen dem sogar eine Stunde im Flur, weil sie Angst hatte, die Klingel nicht zu hören. Ihr Gehör ist auch nicht mehr so gut. Auch dieser Handwerker kam nicht. Ich war schon kurz davor, den Mann zu bitten, nach München zu fliegen, aber das wollte die Tante auf gar keinen Fall. Das Bad hat zwar kein Fenster, aber im Flur gibt es eine Lampe, dann muss man eben die Tür zum Flur auflassen. Oder eine Kerze mit ins Bad nehmen. „Was glaubst du, was wir im Krieg alles erlebt haben, was bedeutet da schon so ein bisschen Dunkelheit.“
Gestern habe ich die Tante gefragt, ob sie denn inzwischen wieder Licht hat. Alles in Ordnung. Sie hat es tatsächlich fertig gebracht, in ihrem Hochhaus einen Nachbarn um Hilfe zu bitten. Leicht ist es ihr nicht gefallen. Obwohl zu ihr jeder kommen kann, wenn nötig, sogar mitten in der Nacht. Nun hat sie auch diese Herausforderung gemeistert. Der Nachbar hat nicht nur den defekten Schalter repariert, sondern auch die Schublade in der Kommode, die seit Monaten klemmt, und sie soll immer Bescheid sagen, wenn etwas zu erledigen ist. Was sie vermutlich in 10 Jahren wieder einmal tun wird. „Da bist du doch bestimmt froh, dass du jetzt Licht hast?“

„Weißt du was? Ich vergesse immer, dass ich es anmachen kann und gehe im Dunkeln ins Bad. Aber das macht überhaupt nichts.“

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