Es ist eigenartig, hier mit dem Laptop auf dem Schoß zu sitzen und zu wissen, heute gehe ich nicht ins Kino. Jedenfalls voraussichtlich nicht. Draußen wird gehämmert, im Haus klappen Türen, es ist einiges los auf der Treppe. Vielleicht kümmert sich jetzt doch jemand um die Ergebnisse des Tauwetters. Das Zimmer der Mieterin über uns steht mal wieder unter Wasser. Bei ihr kommt es vom Dach durch die Decke, von dort auf den Boden, dann suppt das Ganze durch zu uns. Vorgestern Nacht fiel bei uns schon mal ein großes Stück Tapete herunter. Mit ein wenig Putz dran, damit es auch Krach macht und wir wach werden, falls wir vor dem Fernseher schlafen.

Der Hausbesitzer ist telefonisch nicht erreichbar, er reagiert auch nicht auf Mitteilungen auf seinem AB. Ich hoffe, dass mir kein größeres Stück Putz auf den Kopf fällt und fotografiere und filme das Dilemma.
Damit bin ich  doch tatsächlich bei Boris Lehmann und seinem Film „Boris Lehmann et ses amis“ gelandet. Ein Mann, der seit 40 Jahren filmt, täglich tut er das, und immer erzählt er in den Filmen über sich und seine Freunde, die auch alle Künstler sind.  Sie berichten aus ihrem Leben, von ihrer Kunst, man sieht sie bei der Arbeit und wie sie auf dem Sofa liegen und frei über das Leben an sich assoziieren. Einer von ihnen spielt Geige, er hat angefangen es zu lernen, als sein kleiner Sohn damit anfing. Das tut dann schon ein bisschen weh in den Ohren. Am Ende weiß man nicht genau, war das jetzt dokumentarisch? Oder eine Art Tagebuch? Oder irgend etwas mit Dokufiktion? Mir ist es egal, in welche Kategorie man die Filme von Boris Lehmann steckt, ich finde sie  poetisch, philosophisch, witzig. Und so haben das wohl auch die jungen Leuten gesehen, die hinter mir im Kino saßen und den Film gut gelungen fanden.
Während wir auf „Aisheen“ (Still Alive in Gaza) warten, treffe ich die Freundin von Mittwoch wieder, die sich den Delphi Palast ausgesucht hat, um nach der Arbeit noch schnell ein Stück Berlinale zu ergattern. Wir trinken im Quasimodo ein Bier, reden über die Filme, die wir gesehen haben, stellen uns dann doch an, die Schlange sieht so lang aus.Viel junges Publikum. Der Film von dem Schweizer Nicolas Wadimoff ausverkauft.

Er war im Februar 2009 in Gaza, hat dort mit Kindern, Jugendlichen, mit Mitgliedern einer Rap-Band, mit Erwachsenen gesprochen. Bilder, die berühren und ratlos machen. Zerstörte Häuser und Olivenhaine. Immer mal wieder detoniert irgendwo etwas. Eine Bombe? Rakete? Rauch steigt auf. Ein von Phosphor verletztes Baby im Krankenhaus. Ein Strand mit einem toten Wal, ein Zoo mit vielen toten Tieren, von denen ich übrigens nicht glaube, dass sie jemand ausgestopft hat, ein Karussell, das nicht mehr funktioniert, das sich am Ende aber wieder drehen wird.

Menschen am Grenzübergang zu Ägypten, sie sind krank, brauchen medizinische Hilfe, sie dürfen nicht passieren. An dem kleinen Fenster vor der Gutscheinausgabe für Lebensmittel werden Menschen fast tot gedrückt.  Warum geht niemand vor die Tür und beendet dieses gefährliche Gedränge? Vieles in dem Film nimmt mich mit, macht mich traurig, hilflos, wütend, gleichzeitig bin ich aber auch zwiespältig. Ich überlege, was aus diesem eh so gebeutelten Volk werden soll, wenn kleine Kinder bereits mit dem Glauben heran wachsen, dass sie eines Tages als Märtyrer sterben werden? Wenn ihnen niemand etwas anderes erzählt? Auch wenn die Rapper fortschrittlich sind, wenn einer der jungen Musiker fragt, ob wirklich alle glauben,  alle Palästinenser würden Israel hassen, und diese Frage für sich allein schon eine kleine Hoffnung ist, ich habe trotzdem die Zeile in seinem Song nicht überlesen, in der es heißt, „wir sind bereit für einen neuen Krieg“.  Und dann ist mir eine Szene aus „Budrus“ eingefallen, in der eine Frau hilflos fragt, warum keiner den jungen Männern verbietet, Steine zu werfen. Das ist eine – wie mir scheint – wichtige Frage. Vielleicht können die Frauen etwas ändern. Vielleicht können sie für Frieden und Vernunft sorgen. Allerdings fürchte ich, dass ihnen keiner zu hört.

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