Morgens der Himmel mit viel rosa und blau, Vögel zwitschern aufgeregt, es riecht nach frischer Wäsche. Vorgestern habe ich das erste Mal in diesem Jahr an der Spree auf der Bank gesessen. Zwanzig Minuten, das Gesicht der Sonne entgegen, die Augen geschlossen. Dann zurück an den Schreibtisch. An dem ich seit Tagen sitze, diszipliniert arbeite, meine Portraits schreibe, Drehbücher von Kollegen lese, über einem Expose für ein Sachbuch brüte, und mir nur kleine Spaziergänge oder eine Kaffeepause mit einer Freundin gönne.

Oder ich belohne mich wie gestern mit einem Kinobesuch. Schau mir „Ein russischer Sommer“ mit Helen Mirren und Christopher Plummer an. Ich wusste  nicht, dass Tolstoi so fortschrittlich war. Dass er sich für Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe eingesetzt hat. Und dass er trotzdem nicht so moralisch war, wie ihn die Tolstojaner gern gesehen hätten. Aber so ist es oft, ein Mensch hat gute Ideen, er versucht auch umzusetzen, was er erkannt hat, und dann kommen irgendwelche Jünger, stellen ihn auf ein Podest, vereinnahmen seine Lehre, und meist  kommt dann etwas anderes dabei heraus. Am Ende habe ich geweint. Denn das haben diese dussligen Tolstojaner natürlich auch nicht sehen wollen, dass ihr Gott, ihr Guru, zwar ordentlich genervt von seiner holden Gattin war, ganz wunderbar Helen Mirren als große und leidenschaftliche Liebende, dass er sie aber ebenso geliebt hat.

Gute Tage also, die Nächte dafür anstrengend. Ich werde oft wach, weiß vor Schmerzen nicht, wie ich liegen soll, stehe auf, koche Tee, begebe mich wieder ins Bett. Die Psyche ist nachts viel schutzloser als tagsüber. Alte Ängste haben leichtes Spiel. Eine Stimme erzählt mir, dass ich naiv bin, dass mir das ganze Schreiben am Ende nichts bringen wird, und dass ich in einem Jahr bestimmt irgendwo Brötchen verkaufen werde. Ob ich schon mal was von Altersarmut gehört habe, das fragt sie mich auch noch mit diesem hämischen Unterton. Dann fällt mir ein, dass ich mich auf meinen Atem konzentrieren könnte. Ich atme ein. Ich atme aus. Hey, denkst du, so kannst du mich los werden? Ja, das denke ich. Ich atme ein, ich atme aus. Und dann stelle ich fest, dass ich wohl eingeschlafen bin, denn da ist der neue Tag, und ich bin froh, es mal wieder geschafft zu haben.

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