Immer wieder bin ich beim Lesen in Matthieu Ricards Buch auf den Namen Etty Hillesum gestoßen. Eine holländische Jüdin, 1924 geboren, im September 1943 nach Auschwitz deportiert, zwei Monate später dort ermordet. Die Tagebücher, die sie in den beiden Jahren vor ihrem Tod schrieb, wurden von ihr selbst zur Veröffentlichung bestimmt. Sie schrieb noch, als sie längst ihren Deportationsaufruf bekommen hatte, das Angebot unterzutauchen schlug sie aus.

Ein Jahr vor ihrem Tod notierte sie: „Wenn man ein inneres Leben hat, spielt es mit Sicherheit keine Rolle, auf welcher Seite des Gefängniszauns man sich befindet….Ich bin schon tausend Mal in tausend Konzentrationslagern gestorben. Das alles kenne ich. Es gibt keine Neuigkeiten, die mich beunruhigen können. Auf die eine oder andere Weise weiß ich schon alles. Und dennoch empfinde ich dieses Leben als schön und sinnvoll. In jedem Augenblick.“

Diese Sätze haben mich in den letzten zwei Tagen begleitet. Manchmal habe ich beim Lesen geweint, manchmal konnte ich aus vollem Herzen zustimmen.

Ich schreibe. Unterbreche meine Arbeit nur, um mir ein Brot zu machen, ein paar Spaghetti zu kochen, auf der Yogamatte, die vor meinem Schreibtisch liegt, ein paar Übungen zu machen. Es trifft sich gut, dass ich jetzt an der Stelle bin, an der meine Protagonistin von ihrem Paul verlassen wird. Ich muss mich nicht mühselig an vergangenen Liebeskummer erinnern, ich kann aus dem Vollen schöpfen.

Es gibt kaum Gespräche mit J., gestern Abend habe ich mich schon für meine derzeitige Muffligkeit entschuldigt. Was gar nicht nötig war, weil sie es sofort verstanden hat. Du arbeitest, das ist völlig okay.

Vor dem Einschlafen liest mir Ulrich Mühe aus Christoph Heins Buch „Von allem Anfang an“ vor. Auch eine Erinnerung an ein anderes Leben. Diese Stimme. Und Heins alltägliche Geschichten. Präzise beobachtet, die kleinsten Details finden Erwähnung.

Ein Junge, der irgendwann in den späten 50iger Jahren nach West-Berlin flüchtet, um dort weiter zur Schule gehen zu können. In der DDR wird ihm die Oberschule verwehrt, da sein Vater Pfarrer ist. Bevor er seine Familie und sein bisheriges Leben jedoch verlässt, will er alles festhalten, will sich an alles erinnern, was er erlebt hat.

An seine Heimatstadt, an die Ferien auf dem Staatsgut, wo der Großvater Gutsverwalter ist, an seine Eltern, die Mutter, die bei ihrer vorletzten Schwangerschaft, sie hat schon sechs Kinder, vor lauter Ärger monatelang nicht mit dem Vater spricht, an die Freunde, an den ersten Ständer, den er bekommt, als er die wunderschönen Brüste eines nackten jungen Mädchens sieht und ihr rosa Schamhaar, an dem das Wasser nach dem Baden abperlt.

Gebannt und völlig mit mir im Frieden höre ich jeden Abend 80 Minuten, bevor ich tief und fest einschlafe, acht Stunden in zwei Etappen. Und dann ist da wieder ein neuer Tag, der gelebt werden will.

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