Es war wie immer. Wenn ich Berlin verlassen soll, möchte ich gerade da bleiben. Mir fällt kein einziger vernünftiger Grund ein, warum ich ausgerechnet in diesem Augenblick wegfahren muss. Sich erholen kann man überall. Schreiben erst recht. Das Wetter ist wunderbar. Gäbe es nicht Hunderte von wichtigen Dingen zu erledigen? Die Stadt ist leer, ich könnte all die Flecken aufsuchen, die sonst von Touristen überlaufen sind. Es muss Jahre her sein, dass ich in der Reichstagskuppel war zum Beispiel.

Ich könnte auch endlich die Ausstellung im Gropius-Bau ansehen, die seit Monaten auf meiner imaginären Liste steht. Und wenn ich mich nicht der Kultur widmen wollte und all den Filmen, die auf einer zweiten imaginären Liste stehen, dann könnte ich mich wenigstens mit den Mädels treffen, die ich seit Wochen auf später vertröste. Aber nein, ich habe dieses dämliche Haus gebucht und der Mann hat extra für die Reise das Auto geputzt.
Auf den ersten Kilometern hat er es vermieden, mich anzusprechen. Geduldig wartete er mein sich wiederholendes Seufzen ab. Ach ja. Einmal. Zweimal. Manchmal genügt dann eine Kleinigkeit, schon ist mein Widerwillen überwunden. Ein Sonnenaufgang im Rückspiegel. Ein blühendes Rapsfeld. Eine Kirchturmspitze, die durch Regenschleier blitzt. Der Rest geht schnell. Nach ein paar Tagen habe ich mich mit dem neuen Ort angefreundet und möchte Berlin für immer den Rücken kehren und dableiben. Am liebsten richtig auswandern. Aber so schnell verlässt eine eingefleischte Berlinerin ihre Geburtsstadt nicht. Sonst hätte ich in Portugal in einer der ältesten Universitätsstädte Europas studiert, auf dem Peloponnes in der Kneipe gejobbt, im Kibbuz die Wege geharkt oder auf Hiddensee Briefe ausgetragen.
Am Anfang habe ich den Mann  verwirrt, ich bin in solchen Momenten sehr überzeugend. Inzwischen kennt er mich etwas länger und weiß, dass ich nicht nur brav mit ihm nach Hause fahre, sondern dass ich, wenn es wieder so weit ist, nicht aus Berlin weg will. Und nun sind wir hier. Auf dem Fischland.
Bei Uwe Johnson habe ich gelesen, es soll das schönste Land der Welt sein. Ob er damit auch unseren Ort, ob er auch Born gemeint hat? Ein kleines Dorf an der Boddenseite vom Darß. Bis jetzt kann ich mich seiner Meinung nicht anschließen. Aber wir sind erst einen Tag und eine Nacht da, noch könnte man mich umstimmen. Das Meer ist sieben oder acht Kilometer entfernt, nach Ahrenshoop fahren wir mit dem Rad angeblich nur dreißig Minuten.
Unser Ferienhaus ist winzig, Kate passt also. Ein roter Steinfußboden, alte Holzstühle und viele Ölgemälde an der Wand, alles Originale. Für die Nacht gibt es einen Schlafboden, zu dem man in Berlin Hochbett sagen würde. Selbst am Morgen wird es drinnen nicht richtig hell. Von unserem Bett aus blicken wir in einen Garten, in dem Apfelbäume blühen. Schräg gegenüber gibt es einen Bäcker. Heute ist Sonntag, da hat er allerdings geschlossen.
Gerade eben dachte ich, lautes Jammern würde mir vielleicht helfen. „Hier ist es nicht schön. Der Ort ist langweilig.“ Keine Reaktion. „Die Lage des Hauses ist ungünstig, der Garten ist außerdem viel zu klein.“ Ob er mich nicht gehört hat? „„Wahrscheinlich hält man es nur aus, wenn man jeden Tag Ausflüge ans Meer macht. Wie soll ich dann bitteschön schreiben?“ Ich habe Pech. Der Mann ist zum Rauchen nach draußen gegangen.
Am Laptop kann nur einer von uns beiden arbeiten, der andere muss mit der Hand schreiben oder nachdenken oder rauchen. Und ich fange das Rauchen nicht mehr an. Bevor wir losgefahren sind, haben wir festgelegt, dass ich am Laptop den Vorrang habe. Ich will dieses verdammte Buch endlich zu Ende bringen. Wenn ich es in diesem Urlaub nicht schaffe, zu Hause wird es noch schwieriger werden. In den letzten Wochen hatte ich Probleme mit dem kontinuierlichen Arbeiten. Zwischen den manischen Schreibphasen gab es lange Pausen. Zweifel. Aber ich rede nicht gern dadrüber, wenn ich nicht weiter weiß und wenn ich so verzagt bin. Jetzt habe ich zwei Wochen Urlaub vor mir und keine Ausreden. Es ist also völlig egal, wie es drinnen und draußen aussieht. Und eigentlich sollte ich sogar froh sein, je unangenehmer es ist, um so weniger werde ich abgelenkt. Vielleicht will ich auch nur den Schluss nicht schreiben, weil ich nicht weiß, wie es danach weiter geht. Soll ich versuchen, selbst einen Verlag zu finden? Oder soll ich Frau B. K. fragen? Die Idee begeistert mich nicht. Eigentlich reicht es schon, dass ich mit dem Mann in einer Wohnung lebe und die Leidenschaft für das Schreiben teile. Dann müssen wir nicht auch noch die gleiche Agentin haben. Außerdem hat die Dame fast ein Jahr zum Lesen seines Manuskriptes gebraucht. Das ist nichts für meinen ungeduldigen Charakter. Den Mann hat sie jetzt auf Oktober vertröstet. Bis dahin will sie vielleicht einen Verlag gefunden haben. Außerdem hat sie ihm den Floh ins Ohr gesetzt, dass die guten Bücher im Herbst erscheinen. Das Herbstprogramm für dieses Jahr steht schon fest, also bedeutet das für sein Buch den nächsten Herbst. Das sind noch anderthalb Jahre, das Manuskript hat sie seit letzten Oktober. Aber was mache ich mir für Gedanken, erst einmal muss ich mein eigenes Buch zu Ende schreiben.
Manchmal verstehe ich meine liebe Freundin Uschel , die es vorzieht, erst gar nicht mit dem Schreiben anzufangen. Jedenfalls nicht mit dem Schreiben eines Romans, denn sonst schreibt sie ja sehr fleißig. Ich habe ihre Briefe dabei, die E-Mails der letzten Wochen in Berlin noch rasch ausgedruckt. Sie sollen mir Ansporn sein, wenn ich gar nicht weiter komme.
Der Mann ist ein Antreiber, der mich notfalls daran erinnern wird, warum wir hier sind. Aber er ist mein Freund und Mann. Ab und zu brauche ich eine andere Stimme. Eine wie Uschel, die mir immer wieder gut zuredet. Die mich ermutigt anstatt zu sagen, hör mal zu, du dumme Nuss, lass das Träumen und komm endlich in der Realität an. Werde erwachsen. Falls es mit knapp fünfzig dafür nicht sowieso zu spät ist.

Wir sind Seelenschwestern. Allerdings träumte sie im Gegensatz zu mir schon als Kind davon, Schriftstellerin zu werden. Darüber sprachen wir gleich bei unserem ersten Zusammentreffen. Und ich habe sie immer um diese klare Vision beneidet. Erst vor kurzem hat sie mich in einem Brief noch einmal daran erinnert. Sie wollte nie wie die anderen Mädchen Mutter oder Krankenschwester oder Schauspielerin werden. Ich bin beim Lesen gleich wieder ganz grün geworden. Weil ich ja nie wusste, was ich werden wollte. Falls ich je an den Beruf der Schriftstellerin gedacht haben sollte, dann so heimlich, dass ich es selbst nicht bemerkt habe.                                                                      Aber Uschels Freundin Renata hat natürlich recht. Wir können uns glücklich schätzen, weil wir nur Schriftstellerinnen werden wollen. Keine Balletttänzerinnen. Denn dafür wären wir definitiv zu alt. Und in meinem Fall könnte man auch noch sagen: Sie ist zu fett fürs Ballett.

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