wie „Victoria“ kann er sich nur noch einen Dokumentarfilm anschauen. Sagt Herr W. Diese Qualität, das kriegt doch ein anderer Film gar nicht hin auf die Schnelle. Kein Problem, ich liebe Dokumentarfilme. Im Babylon zeigen sie „Die Rapoports – Unsere drei Leben“. Der Film ist von 2003, bekam 2005 sogar den Grimme-Preis. Aber da Inge Rapoport erst vor kurzem ihre Doktorarbeit verteidigt hat – die Nazis hatten ihr dies 1938 verweigert – ist der Film immer noch aktuell. In- und ausländische Zeitungen haben darüber berichtet, dass eine 102jährige endlich ihre Promotionsurkunde bekommen hat.

Während wir im Foyer dicht gedrängt auf den Einlass warten, immer wird es später, als sie behaupten, und warum bespielen sie den Saal vorher, wenn sie wissen, dass es zeitlich knapp wird, ausverkauft noch dazu, aber das sind  Fragen, um die ich mich nicht kümmern kann. Zumal ich mir ja die Lobeshymne auf „Victoria“ anhören muss. Freiwillig anhöre. Denn es gibt auch bei Herrn W. einen Ausknopf, aber wenn er so in Schwung ist, so begeistert noch dazu, dann lausche ich ihm gern. Doch dann sind wir endlich drin, auch Inge Rapoport und die zwei Filmemacherinnen, und los geht es.

Inge Syllm lernt Samuel Mitja Rapoport in Amerika kennen, wohin die beiden Juden vor den Nazis geflohen sind. Er ist Biochemiker, sie Kinderärztin. Bevor sie heiraten, informiert Mitja seine Inge über folgende Prioritäten in seinem Leben: 1. will er für eine bessere Welt kämpfen, er ist Kommunist, 2. ist ihm die Wissenschaft wichtig, also wäre da nur der 3. Platz für sie und die Familie. Sie nimmt ihn trotzdem, bekommt Kinder mit ihm, und die Welt besser machen will sie auch.

Als das Ehepaar in der McCarthy-Ära Verleumdungen und Hetze ausgesetzt ist, bleibt Mitja in der Schweiz, wohin man ihn zu einem Kongress eingeladen hat. Inge verlässt Amerika in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit drei Kindern, schwanger mit einem vierten. Doch dann will ihm kein europäisches Land Arbeit geben, obwohl er so ein bekannter Wissenschaftler ist (u. a. ist es ihm mit zu verdanken, dass man Blut besser konservieren kann), der amerikanische Geheimdienst hat bereits getan, was möglich war. Dann der Ruf aus der DDR, dem sie folgen. In das immer noch zerstörte Berlin.

Sie bekommen ein Haus in Niederschönhausen, dort, wo Künstler und Intellektuelle wohnen dürfen, doch ihren Nachbarn sind sie suspekt. Zwei Leute, die aus dem amerikanischen Exil kommen, das müssen Agenten sein. Aber für wen spionieren sie? Auch die Kinder sind Außenseiter mit ihren österreichisch-amerikanischen Pässen, obwohl sie von Anfang an Mitglied der Pionierorganisation sind. Doch die DDR wird der Familie trotzdem Heimat (ein Sohn verlässt sie allerdings vorzeitig, nicht alle Kinder teilen die sozialistische Begeisterung der Eltern) und Auszeichnungen gibt es im Laufe der Jahre auch jede Menge. Man sieht ganz nostalgisch Herrn Honecker bei der Übergabe.

1989 ist für das Ehepaar dann kein Jahr der Freude. Nach dem 9. November grübelt Mitja über die Frage, was sie falsch gemacht haben. Obwohl er nicht schlafen kann, findet er keine Antwort.

Inge Rapoport kennt den Film natürlich, zuletzt hat sie ihn vor einer Woche in Hamburg gesehen, aber das macht nichts, sie sieht ihren Mitja so gerne, sagt sie, 2004 ist er gestorben. Sie waren vor 12 Jahren, als der Film entstanden ist, immer noch ganz verliebt ineinander, das war zu erkennen. Seufz. Jetzt sind ihre Augen schwach, aber ihr Geist ist wach und stark. Sie spricht druckreife Sätze, ist herzlich, hat eine ordentliche Prise Humor, so eine möchte man sofort als Mutter oder wenigstens als Großmutter.

Hinterher müssen wir in der Kneipe gegenüber noch reden und dabei Wein trinken, eine solche Geschichte birgt schließlich jede Menge Potential. Natürlich konnte man vom Sozialismus begeistert sein, wenn man so privilegiert gelebt hat. Wenn man reisen und mit ausländischen Wissenschaftlern Kontakt halten durfte.Sagen wir und zucken mit den Schultern.

Früher hätte ich mich über diesen Punkt geärgert, ich glaube, es liegt am Alter, wenn ich plötzlich so großzügig bin. Außerdem habe ich erst vor kurzem die Erinnerungen von F. J. Raddatz gelesen, davor die Autobiografie von Stefan Heym, und ich habe wieder etwas mehr davon verstanden, welche Anziehung dieser junge Staat DDR in den frühen 50er Jahren z. B. auf Intellektuelle und Künstler ausgeübt hat. Dann ist zwar im Laufe der Jahre etwas ziemlich schief gelaufen, aber die Idee an sich, die war gar nicht übel. Keine Restauration, nie wieder Krieg, Arbeit und Brot für alle, Bildung, das gefällt mir doch auch. Und Herrn W. ebenso. Darauf erheben wir das Glas!

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