Übers Alter kann man nur mit jemanden reden, der selber alt ist. Sagt die Tante, die ich seit Tagen nicht ans Telefon gekriegt habe. Heute morgen dann endlich nach dem zwölften Klingeln nimmt sie ab. Sie schläft so viel in letzter Zeit. Nach dem Frühstück. Mittags. Am frühen Abend. Nachts.

Seit dem sie aus Tunesien zurück ist, geht es ihr schlecht. Etwas ist dort mit ihr passiert. Sie ist zweimal umgefallen, einfach so, ohne Vorwarnung, einmal hat sie sich dabei den Arm gebrochen. Keiner weiß warum, auch die Ärzte nicht, aber das ist ja normal, sagt sie. Schon ihr alter Hausarzt erzählte davon. Gehen sie zu fünf verschiedenen Ärzten, sie erhalten fünf verschiedene Diagnosen. Muss ein kluger Mann gewesen sein.

Die Tante erklärt mir die Sachlage. In unserer Gesellschaft ist ein alter Mensch nichts wert. Der ist nicht mal für Ärzte interessant. Und deswegen muss man sich seine Diagnosen selber stellen. Es sei denn, man ist die Mutter von Beckenbauer. Ich weiß nicht, warum sie immer wieder auf Beckenbauer kommt. Vielleicht wäre sie gern seine Mutter. Die Tante ist niemandes Mutter. Nur die Tante einer unbekannten Fotografin und Makeup Artistin und einer ebenfalls unbekannten Autorin, und die Schwester eines in Sydneyer Künstlerkreisen zwar bekannten, aber armen Bildhauers. Damit kann sie keinen Arzt hinter dem Schreibtisch hervor locken.

Bewegen soll sie sich, empfiehlt dringend der neue junge Arzt. Das soll er nicht noch einmal wagen, ihr zu sagen, sie könne sonst für nichts garantieren. Ob sie ihn dann hauen will? Die Frage hat sie nicht gehört. Das Hörgerät hat seine Macken. Und der Arzt hat keine Ahnung. Wie sie sich denn bewegen soll, wenn sie nicht kann. In der Wohnung läuft sie herum, damit sie die Knie belastet. Gestern war sie sogar im Park. Aber sitzen ging nicht, der Körper verlangte zu liegen. Sie hatte Angst, ob sie es überhaupt wieder nach Hause schafft.

Bis 84 war sie ganz flott. Dann ist ihr Bruder, mein Vater, gestorben und sie war ein Jahr lang ständig krank. Die Psyche, das hat sie selber diagnostiziert. Und die Psychologin, und nach anfänglichem Widerstand auch der Arzt, haben ihr Recht gegeben. Und jetzt lassen offensichtlich die Kräfte nach.

Ob sie sich noch einmal aufrafft? Sie sieht die Angelegenheit pragmatisch. Hat selber bei anderen alten Menschen deren Verfall beobachtet. Das ist der Lauf der Zeit. So lange wie möglich sich selbst versorgen will sie. Sich ein Mittagessen kochen. Keine Tütensuppe, weil das kein Essen ist. Und jetzt muss sie sich etwas ausruhen. Wir reden nächste Woche wieder. Und um Gottes Willen nein, ich soll nicht nach München kommen. Das würde ihr jetzt gerade noch fehlen.

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