Die Konzertkarten im Abo gibt es immer für ein Jahr im voraus. Meist habe ich sie an die Holländerin weitergegeben, das hätte dem Redner gefallen. Und ich habe mich herausgeredet, wenn ich als Begleitung angefragt wurde. So wie ich mich früher auch bei ihm herausgeredet habe. Ich bin eben ein Klassik-Muffel, das weißt du doch, und so lange auf einem Fleck sitzen mag ich auch nicht (als ginge ich nicht leidenschaftlich gern ins Kino), und überhaupt.

Oft weiß ich schon im Vorfeld – ein Gefühl, eine Ahnung, ganz schnell ist das da – wie ein Ereignis aussehen wird. Ich bin mir sicher, dass es mir nicht gefallen, mir nicht gut tun, mich langweilen oder stressen wird. Eine Flucht aus der Philharmonie z. B. wäre echter Stress. Und fliehen werde ich bestimmt müssen. Und dann vermeide ich diese Dinge. Konzerte. Kontakte. Was auch immer. Dafür sorgt eine Art automatisches Programm in meinem Inneren. Früher habe ich natürlich geglaubt, ich würde das tatsächlich selber entscheiden. Dabei bin ich nur einer Art  Algorithmus gefolgt. Was für jemanden mit einem Posttrauma nicht ungewöhnlich ist, wie ich inzwischen weiß. Ich will auch nicht ausschließen, dass mich dieser Automatismus tatsächlich vor unangenehmen Erlebnissen geschützt hat in der Vergangenheit. Aber er wird mir auch viele schöne und besondere Momente erspart haben. Und das finde ich schade.

Seit ich mich mit diesem Teil meiner Persönlichkeit auseinandersetze – mich endlich dem unangenehmen Teil meiner Vergangenheit zuwende, könnte man wohl eher sagen – kann ich zumindest nicht mehr behaupten, ich wüsste nicht um diese Dinge. Zumal ich gerade in den letzten Monaten festgestellt habe, dass ich mich besonders lebendig fühle, wenn ich unverhofft mit einer Situation umgehen muss, wenn ich nicht mehr ausweichen kann oder nicht mehr will, wenn ich mich einlasse also. Und deswegen werde ich heute Abend in dieses verdammte Konzert gehen. Obwohl ich bei dem Gedanken an „Die kleine Nachtmusik“ sofort müde werde. Sogar ein Klassik-Muffel hat die schon 100-mal gehört. Also hoffe ich auf Alban Berg und Beethoven. Und wenn es mir wirklich nicht gefällt, dann gehe ich eben. Das sollte möglich sein.

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