Die Freundin schreibt in ihrer Mail, sie wäre knurrig heute. Und Du? Ich war gestern knurrig, schreibe ich zurück. Nach einer Spätschicht im Kino brauche ich eigentlich anderthalb Tage zum Regenerieren. Da merke ich, dass ich keine zwanzig mehr bin. Nicht mal vierzig. Wenn man es genau nimmt, gehe ich mit großen Schritten auf die sechzig zu. Und das ist nicht komisch, auch wenn ein junger Kollege neulich witzelte, ich wäre doch noch ein Teenager und meine Gefühle sich manchmal so aufführen, der Körper lässt sich nicht hinters Licht führen, der weiß, was die Uhr geschlagen hat.

Am Morgen nach einer Schicht fühle ich mich wie eine sehr alte Frau, die nicht ganz bei sich ist. Wer bin ich? Wo? Und warum? Wenn dann noch mein Handy verschwunden ist, ich habe es offensichtlich in Hintertupfingen vergessen, wenn ich vergeblich meinen Ausweis suche (wenigstens wird bei der Gelegenheit der Schreibtisch aufgeräumt), wenn ich weiß, dass ich eine weitere Nacht vor mir habe und dass nach dieser Nacht der Zweitjob auf mich wartet – mein Einsatz als guter Familiengeist – dann kann das für eine gewisse Knurrigkeit sorgen.

Aber heute? Das Leben ist schön, singe ich vor mich hin. Und das liegt an meinem Jungen, mit dem ich gemütlich zwei Stunden spazieren gehe. Meditativ unterwegs bin, könnte man sagen, weil er sehr langsam läuft, gerne stehen bleibt, kleine Dinge betrachtet. Er hat einen silbernen Schuhlöffel und eine alte Fernbedienung dabei, beides wird auf dem Weg zum See zum Trommeln an Briefkästen und Zäunen benutzt und mit eigenen Töne ergänzt.

Obwohl er keine Worte zur Verfügung hat, ist die Verständigung einfach. Er zieht mich am Arm, da will er hin. Er schiebt den Arm weg, das will er nicht. Herzhaftes Gelächter gibt es aus heiterem Himmel, aber wer weiß, welche Dinge er sieht, die für mich unsichtbar sind. Am See machen wir alle paar Meter eine kleine Rast auf einer Bank, ich schau mir den See an, ihn interessieren Käfer, Partikel, kleine Dinge eben. Aber am allerliebsten würde er sich ins Wasser stürzen, das muss rechtzeitig erfasst und verhindert werden. Wenn er sich nicht selber ins Wasser werfen kann, dann doch wenigstens den silbernen Schuhlöffel. Da guckt die Tante aber.

An dieser Stelle ist der Einstieg schwierig. Das Kind zum Hinsetzen bewegen. Energisch „da sitzen bleiben“ sagen, darauf hoffen, dass er tatsächlich sitzen bleibt, dann aus den Stiefeln, den Strümpfen steigen und hinein in den See. Zur Belohnung muss sich die tapfere Löffelretterin von dem Kerl auslachen lassen. Später werde ich heftig gedrückt, umarmt, das ist neu, auch ins Shirt schaut er mir, ist das jetzt Begeisterung? Der Griff zeugt nicht gerade von ausgeprägter Feinmotorik, aber was will man mehr? Ein Kind zum Verlieben, am Himmel eine fette Sonne, vor mir der funkelnde See, alles blüht, es riecht nach Frühling, kein Grund zum Knurren.

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